Von "Hinkeln" und "Gickeln"
Russlanddeutscher Dialekt
Lilia Prochorowa ist Deutschlehrerin an der Schule Nr. 19 im westsibirischen Omsk. Die 64-Jährige kommt aus einer russlanddeutschen Familie und ist zweisprachig aufgewachsen. Im Interview spricht sie über ihre Familiengeschichte und über russlanddeutsche Dialekte.
Woher kommen deine Vorfahren?
Meine Vorfahren kamen aus Deutschland und haben sich zur Zeit von Katharina II. an der Wolga angesiedelt. Im 19. Jahrhundert sind meine Urgroßeltern nach Amerika gegangen. Warum, weiß ich nicht. Damals sind viele Russlanddeutsche mit dem Schiff nach Amerika gefahren. Auf den Passagierlisten haben wir meine Verwandten gefunden. Meine Großeltern wollten immer nach Russland zurück. Mein Großpapa wollte in der Landwirtschaft arbeiten. In den 1920er- und 1930er-Jahren war in den USA die Wirtschaftskrise. 1924 kehrten meine Großeltern nach Russland zurück. Dort wurde ihnen Ackerland zugesprochen. Mein Großpapa hat oft gesagt, dass die Jahre an der Wolga für ihn die glücklichsten waren. Meine Mutter kam noch in Amerika zur Welt. In Milwaukee, Wisconsin.
Kam deine Familie 1941 nach Sibirien?
Ja, meine Mutter musste zur Trudarmee. Das war eine militarisierte Form der Zwangsarbeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Meine Großeltern waren dafür zu alt. Sie lebten in Nowowarschawka in der Oblast Omsk. Meine Mutter arbeitete in einer Fischfabrik in der Oblast Tjumen. Sie hatte damals schon als Lehrerin gearbeitet und musste deshalb keine körperlich schweren Arbeiten übernehmen. Sie war Buchhalterin. Nach dem Krieg ist meine Mutter auch nach Nowowarschawka gekommen. Dort wurde ich 1953 geboren. Bis 1956 lebten wir in Sondersiedlungen und standen unter Kommandantur. Das heißt, wir mussten uns regelmäßig bei den Behörden melden und durften unseren Wohnort nicht verlassen. Viele wollten an die Wolga und sehen, ob es ihre Dörfer noch gibt.
Hast du noch Verwandte in Amerika?
Die Geschwister meiner Großeltern sind in Amerika geblieben. Meinen Cousin Paul habe ich in Kansas besucht. Er ist über 70 Jahre alt und spricht noch ein bisschen Deutsch. Die meisten sprechen die Sprache aber nicht mehr. Mit Paul und seiner Familie war ich mal in einem Restaurant essen. Es gab dort deutsche Gerichte. Ein Gericht auf der Karte kannte ich nicht. Sie nannten es "Birog". Dann erst wurde mir klar: Das ist das russische Wort "Pirog" [Kuchen]. Die Deutschen haben dieses Wort aus Russland nach Amerika mitgenommen. In Argentinien haben auch viele "Kalatsch" zum Brot gesagt. Die deutsche Sprache hat sich in Russland aber besser gehalten.
Was weißt du noch vom russlanddeutschen Dialekt?
Bei uns auf dem Dorf hat man "Hinkel" [Huhn] und "Gickel" [Hahn] gesagt. Es hieß nicht "Mutter", sondern "Mudder". Viele haben "AnnaTant’" gesagt statt "Tante Anna". Ich kann mich auch an ein Kindergedicht erinnern: "Salz und Brot machen d’Bågga rot. Rode Bågga, weiße Zäh’, machen alle Mädchen schee".* Man spricht so, wie man schon vor 300 Jahren gesprochen hat. Darunter mischen sich aber auch neue russische Wörter. Meine Großmama hat zum Beispiel gesagt: "Gib mir das Kruschkale!" von "Kruschka" [Becher]. Oder: "Wo sind meine Sapagi [Stiefel]?" Viele Russlanddeutsche sagen auch: "Alle Deutschen sparjat [sparen]". In meinem Dorf gab es viele verschiedene Dialekte. Dort lebten Sibiriendeutsche, Krimdeutsche, Wolgadeutsche.
Du bist also mit Deutsch aufgewachsen?
Ich bin bilingual aufgewachsen. In der Familie habe ich deutschen Dialekt gesprochen, im Kindergarten Russisch. Meine Großmama konnte nur Deutsch. Meine Mutter hat auch Russisch gesprochen, aber mit Akzent. Sie hat immer gesagt "Ja budu napisat" [Ich werde schreiben]. Das Wort "werden" verwendet man bei der russischen Zukunftsform nicht so oft. Man sagt "Ja napišu". Im Dorf Blumenfeld im Deutschen Nationalkreis Asowo habe ich vor einigen Jahren mal zwei Mädchen Plattdeutsch reden hören. Das hört man nur noch selten. Das ist schade. Man muss die Sprache pflegen.
Ist aus deiner Familie auch jemand nach Deutschland gegangen?
Ein Halbbruder meiner Mutter ist während des Krieges in die BRD gekommen. Er hat eine Tschechin geheiratet und ist dort geblieben. Ich kenne viele Russlanddeutsche, die nach Deutschland gegangen sind, vor allem in den 1990er-Jahren.
Bist du eher Russin oder eher Deutsche?
Das ist eine gute Frage, wahrscheinlich 50/50. Meistens sage ich: Ich bin Deutsche. Ich bin mit deutschen Gerichten aufgewachsen, wir haben deutsche Feiertage gefeiert. Aber ich bin auch russisch. Wenn man etwas wirklich will, dann kann man das auch schaffen. Und Russen finden immer einen Weg. Prinzipiell finde ich aber, dass jedes Land schön ist. Ich sehe mich als Kosmopolit.
*Salz und Brot machen die Wangen (Backen) rot. Rote Wangen, weiße Zähne machen alle Mädchen schön.
Das Interview führte Magdalena Sturm.
Foto: privat (Lilia Prochorowa)