25 Jahre "Insel der Hoffnung"
Der Deutsche Nationalkreis Asowo
In einem Innenhof in der Leninstraße in Omsk wurde im Mai 2016 das Deutsch-Russische Haus eröffnet. Hier befindet sich das Büro von Bruno Reiter. Der 75-Jährige leitete den Deutschen Nationalkreis Asowo von dessen Gründung 1992 bis 2010. Jetzt feiert der Nationalkreis sein 25-jähriges Bestehen. Im Interview spricht Bruno Reiter über die Gründung des Nationalkreises und die Situation der Russlanddeutschen heute.
Sie stammen aus einer wolgadeutschen Familie. In welchem Umfeld wuchsen Sie auf?
Heimat, das bedeutete für mich immer: die Wolga. Im August 1941 wurden die Deutschen, die in den Wolgagebieten lebten, nach Sibirien deportiert. Wir wurden in Sondersiedlungen untergebracht und unterstanden einer eigenen Verwaltung. Es gab Einschränkungen und Diskriminierungen. Meine Eltern wurden in die Trudarmee interniert. Sie lebten in Kasachstan. Ich wuchs bei meinen Großeltern im Dorf Alexandrowka auf. Durch die damalige Politik lernte ich schnell, was es bedeutet, ungerecht behandelt und ausgegrenzt zu werden. Die Leute im Dorf verhielten sich uns gegenüber aber normal. Wir hatten Glück: 100 Prozent der Dorfbewohner waren Deutsche. Wir sprachen Deutsch. Bis zur Einschulung konnte ich kein einziges Wort Russisch. Etwa 60 Prozent aller Russlanddeutschen leben noch heute hinter dem Ural, die meisten von ihnen in der Oblast Omsk und in der Region Altai.
Wie kam es zur Gründung des Deutschen Nationalkreises Asowo?
Nach meiner Ausbildung arbeitete ich als Professor an der Agraruniversität und am Landwirtschaftlichen Forschungsinstitut. Ich war nie in der Politik. Ich war nie in einer Partei. Ich dachte immer, dass ich bei der Wissenschaft bleiben würde. 1986 kam aber die Perestroika, die Zeit des Umbruchs. Es war der richtige Moment, um die Frage nach den Russlanddeutschen aufzuwerfen. Danach wäre es zu spät gewesen. 1991 wurde ein Referendum abgehalten, an dem 71 Prozent der Bevölkerung des heutigen Kreises Asowo teilnahmen. 83 Prozent stimmten für die Gründung eines deutschen Nationalkreises. Am 13. Februar 1992 wurde der Antrag unterzeichnet.
Welche Unterstützung erhielten Sie aus Deutschland?
Nach dem Referendum kehrte ich nach Omsk zurück. Um 06.00 Uhr Omsker Zeit rief mich der deutsche Botschafter der Sowjetunion an, um mir zum Erfolg zu gratulieren. Ich wurde nach Deutschland eingeladen und traf den damaligen Aussiedlerbeauftragten Helmut Kohls, Horst Waffenschmidt. Am Anfang hatten wir noch keinerlei Infrastruktur – keine Unterkünfte, kein Stromnetz, keine Wasserleitungen, kein Transportsystem. All das wurde mit finanziellen Mitteln aus Deutschland erbaut. Wenn die Unterstützung aus der historischen Heimat nicht gewesen wäre, hätten wir es nicht geschafft.
Was veränderte sich für die Einwohner von Asowo?
Es geht hier nicht um das Materielle. Die Leute lebten auch vor der Gründung des deutschen Nationalkreises nicht schlecht. Es geht um die Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Das spielt eine unglaublich große Rolle. Die Frage ist nicht, wer im Kreis lebt, sondern: Was wäre auf dem Gebiet des Kreises heute, wenn der deutsche Nationalkreis nicht wäre? Ab den späten 1980er-Jahren wanderte der Großteil der Deutschen, die ursprünglich in Asowo lebten, nach Deutschland aus. Es kamen aber Deutsche aus Zentralasien, vor allem aus Kasachstan. Dort hatten sie oft nichts, in Asowo gab es Wohnungen, Schulen, eine medizinische Versorgung. Ich bereue nicht, den Nationalkreis gegründet zu haben. Allein für die paar Tausend Leute aus Kasachstan war es notwendig diese „Insel der Hoffnung“ – wie der Aussiedlerbeauftragte Waffenschmidt sagte – zu errichten. Die Frage der Rehabilitation der Russlanddeutschen ist schwierig und leider bis heute nicht vollständig geklärt.
Wie viele Deutsche leben noch im Nationalkreis Asowo?
In unserem deutschen Dialekt wird leider kaum noch gesprochen, aber ich halte nichts von der Theorie „Wenn du nicht Deutsch sprichst, bist du kein Deutscher“. Zählt man die Bewohner, die einen deutschen Pass oder deutsche Eltern haben, so kommt man auf circa 17 Prozent. 60 Prozent leben aber in gemischten Ehen. Sind die Kinder dann Russen oder Deutsche? Die deutsche Sprache ist nicht das wichtigste Kriterium. Es kamen Leute aus Zentralasien, die kein Wort Deutsch sprachen. Ich sah sie an und wusste: Das sind Deutsche. Der Ordnungssinn liegt ihnen im Blut. Einer fängt an, den Zaun zu streichen, und am nächsten Tag haben alle ihre Zäune gestrichen. Das positive Beispiel ist ansteckend. So wurden Alexandrowka und Zwetnopolje wieder deutsche Dörfer, obwohl die meisten dort in russischen Familien leben.
Wie kann man die deutsche Kultur in Russland aufrechterhalten?
Das ist eine der wichtigsten Fragen. Die Russlanddeutschen leben seit 150 Jahren in Asowo. Sie lebten dort geschlossen, sie haben ihre Ideologie erhalten. Die Kinder, die aus Kasachstan nach Asowo kamen, hatten deutsche Vor- und Vatersnamen, aber sonst verband sie nichts mit der deutschen Kultur. In Asowo fanden sie ein deutsches Umfeld. In den letzten Jahren ist das Interesse der Jugend an dem Thema stark gestiegen. Gestern gab es hier im Deutsch-Russischen Haus einen Kochkurs für deutsche Gerichte. Wir tun alles dafür, damit sich die heutige Jugend wieder deutsch fühlt. Darauf sollte sie stolz sein!
Was waren die wichtigsten Etappen für den Nationalkreis in den letzten 25 Jahren?
Die erste und wichtigste Etappe stand unter dem Motto „Sein oder nicht sein“. Der Nationalkreis existierte 1992 auf dem Papier, aber die Infrastruktur musste erst aufgebaut werden. In einer zweiten Etappe ging es darum, wie man das wirtschaftliche Potenzial des Kreises erhalten kann. Anstelle der Kolchosen entstanden landwirtschaftliche Betriebe, die heute sehr erfolgreich sind. Man denke nur an „Luft“, „Pfeifer“ oder „Farenbruch“. Die dritte Etappe begann vor einem Jahr und läuft jetzt. Es geht um die Modernisierung, um neue Technologien. Die Etablierung eines Systems regionaler Selbstverwaltung der Russlanddeutschen ist nirgendwo so gut gelungen wie in Asowo. Und das wollen wir 2017 feiern.
Magdalena Sturm und Ekaterina Schmelyowa
führten das Interview und übersetzten es aus dem Russischen.
Fotos: Ekaterina Schmelyowa (Bruno Reiter im Gespräch)
Dieser Beitrag erschien zuerst (in deutscher und russischer Sprache) in Ihre Zeitung, Nr. 10, vom 9.3.2017.