Bewegtes Leben
Die Wolgadeutsche Margarete Schulmeister
vitamin de, Ausgabe Nr. 89, Regionalausgabe Russland
Margarete Schulmeister wurde 1925 im südrussischen Kamyschin geboren. In ihrem langen Leben hat die Wolgadeutsche viel erlebt: die Verhaftung ihres Vaters in der Zeit des Großen Terrors, die Verbannung nach Kasachstan, den Dienst in der Arbeitsarmee. Trotz dieser Erfahrungen verlor Margarete Schulmeister nie ihren Optimismus. Seit 1997 wohnt sie in Sankt Petersburg, wo auch ihr Sohn lebt. Im Interview erzählt die 95-Jährige von ihrer bewegten Vergangenheit – und verrät, was die heutige Jugend von älteren Generationen lernen kann.
Frau Schulmeister, auf welche Episode Ihres Lebens sind Sie besonders stolz?
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, macht es mich stolz, dass ich schon als junges Mädchen für mich selbst sorgen konnte. Mein Vater wurde verhaftet, als ich 13 Jahre alt war. Plötzlich waren meine Mutter und ich allein – ohne Einkommen. Ich musste schon früh Verantwortung übernehmen. Immer, wenn irgendwo eine Arbeitskraft gesucht wurde, habe ich die Arbeit angenommen. So habe ich Geld verdient und konnte auch meine Mutter unterstützen. Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich diese schwierigen Jahre überstanden habe, ohne auf die Hilfe anderer angewiesen gewesen zu sein. Später habe ich noch studiert und viele Jahre in Wolgograd als Mathematiklehrerin gearbeitet.
Oft sagen Menschen, die viel erlebt haben: „Früher war alles besser!“ Stimmen Sie dem zu?
Jeder Mensch macht andere Erfahrungen, daher gibt es auf diese Frage keine allgemeingültige Antwort. Ich für meinen Teil kann aber sagen, dass es heute besser ist als früher. Die Verhaftung meines Vaters im Jahr 1938, die anschließende Verbannung meiner Mutter und mir nach Kasachstan, mein Dienst in der Arbeitsarmee – all das war wirklich nicht leicht zu ertragen und ich hatte oft große Angst. Erst als mein Vater nach 20 Jahren Haft freigelassen wurde und zu uns zurückkehrte, wurde die Situation besser. Auch das Ende der Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre machte das Leben für meine Familie einfacher. Deshalb gilt der Spruch „Früher war alles besser!“ für mich definitiv nicht.
Was macht Sie heute glücklich?
Mich macht es glücklich, von Menschen umgeben und nicht allein zu sein. Ich möchte am Leben, das um mich herum geschieht, aktiv teilhaben. So kann ich etwas bewirken und die Dinge zum Besseren verändern. Dieses Prinzip verfolge ich schon mein ganzes Leben lang. Auch in meinem Beruf als Lehrerin und während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit in der Kirchengemeinde habe ich danach gelebt.
Was kann die heutige Jugend von älteren Generationen lernen?
Ich denke, die Lebensgeschichten vieler älterer Menschen zeigen, dass man jede Herausforderung meistern kann, wenn man sich nur anstrengt und hart genug arbeitet. Wer für seine Ziele kämpft, wird diese auch erreichen – davon bin ich überzeugt. Denn auch ich habe niemals aufgegeben und mir alles selbst erarbeitet. Und noch etwas können die jungen Leute von uns Alten lernen: wertzuschätzen, was man hat, und die Dinge nicht als selbstverständlich hinzunehmen.
Was möchten Sie den Leserinnen und Lesern von vitamin de mit auf den Weg geben?
Eine Fremdsprache zu lernen ist immer eine große Bereicherung. Denn so können wir uns mit Menschen aus anderen Kulturen austauschen und unseren Horizont erweitern. Die Generation meiner Kinder musste leider zu einer Zeit aufwachsen, als es in der Sowjetunion verboten war, Deutsch zu sprechen. Daher fehlt es ihnen an Deutschkenntnissen. Ich rate deshalb allen, die die Möglichkeit dazu haben: Lernt neue Sprachen! Es ist ein großer Gewinn – nicht nur für die eigene Bildung, sondern für das ganze Leben.
Das Interview führte Arina Nemkowa, Direktorin des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums in Sankt Petersburg.
Der Große Terror
Der sogenannte Große Terror war eine Kampagne staatlicher Repressionen gegen die sowjetische Bevölkerung zwischen 1936 und 1938. Die Maßnahmen werden auch als Große Säuberung bezeichnet und richteten sich gegen vermeintliche Gegner des Diktators Josef Stalin (1878 – 1953). Während des Großen Terrors wurden mehr als 1,5 Millionen Menschen verhaftet, etwa die Hälfte von ihnen wurde hingerichtet. Waren zunächst hohe Politiker und Angehörige des Militärs von den Repressionen betroffen, wurden später auch andere gesellschaftliche Gruppen, wie ethnische Minderheiten, Wissenschaftler oder Kulturschaffende, Opfer der Verfolgungskampagne.
Fotos: Stiftung Deutsch-Russisches Begegnungszentrum in Sankt Petersburg (Margarete Schulmeister im Titelbild, Logo), privat (Margarete Schulmeister als junge Frau)