Unbekannte Nachbarn
Geschichten belarussischer Juden
vitamin de Ausgabe Nr. 73, Regionalausgabe Belarus
Das Projekt „Unbekannte Nachbarn“ wurde von der Initiative „Schulen: Partner der Zukunft“ (PASCH) ins Leben gerufen. Im Rahmen des Projekts machten sich Schüler von PASCH-Schulen auf die Suche nach den jüdischen Spuren in Belarus. Zehn Einzelschicksale belarussischer Juden wurden nun zusammengefasst und als kleines Büchlein veröffentlicht. Das Büchlein ist im Goethe-Institut Minsk kostenfrei erhältlich.
Unbekannte Nachbarn – damit sind die ehemaligen jüdischen Einwohner im heutigen Belarus gemeint. Seit Ende des 14. Jahrhunderts hatten sich viele Juden in der Region angesiedelt. Sie lebten in Kleinstädten und Dörfern, aber auch in den Großstädten, wo sie sogar die Hälfte der Einwohnerzahl ausmachten. Nach der Ermordung von geschätzt 700 000 belarussischen Juden im Zweiten Weltkrieg endete die jüdische Geschichte in Belarus abrupt. Fast alle Juden der Region und auch viele deutsche und österreichische Juden wurden in die belarussischen Ghettos und die Todeslager Maly Trostenez und Bronnaja Gora deportiert und größtenteils ermordet. Von den wenigen Überlebenden emigrierten die meisten nach Kriegsende.
Eine Lücke hinterlassen
Die Toten und Fortgegangenen hinterließen in Belarus eine Lücke. Synagogen, jüdische Wohnhäuser, Schulen, Unternehmen, Kranken- und Waisenhäuser waren noch da, nicht aber die jüdischen Einwohner, Ärzte, Künstler, Wissenschaftler und Unternehmer. Nach Erlangung der Unabhängigkeit der Republik Belarus im Jahr 1991 entstanden in allen größeren Städten wieder jüdische Gemeinden. Dennoch ist die Geschichte der belarussischen Juden ein Fall für Historiker geblieben. Die breite Öffentlichkeit weiß nur wenig über die jüdische Geschichte in Belarus. An diesem Punkt setzt das Projekt „Unbekannte Nachbarn“ an, an dem PASCH-Schüler ein Jahr lang arbeiteten. Die Schüler recherchierten jüdische Schicksale in ihren Heimatorten, um den abstrakten Opferzahlen Personen und Erzählungen gegenüberzustellen und Geschichte damit erfahrbar zu machen.
Recherchierte Lebensgeschichten
Mit Unterstützung von Deutsch- und Geschichtslehrern forschten die Schüler in Archiven, befragten Holocaust-Überlebende, Zeitzeugen und Historiker. Sie nahmen Kontakt zu den jüdischen Gemeinden auf, besuchten Friedhöfe, Gedenkstätten und ehemalige Wohnorte. Ihre Ergebnisse fassten sie auf Deutsch und Russisch zusammen. Fotos aus Familienalben, Archivbeständen und Zeitungen ergänzen die recherchierten Lebensgeschichten.
Dem Vergessen entreißen
Manchmal gibt es aber auch weder Bilder noch genaue Daten. Viele Opfer sind vollkommen in Vergessenheit geraten. Manche leben nur in Erinnerungsbruchstücken (einem Geburtsort, einem Kosenamen oder einer Berufsbezeichnung) weiter. Um einige jüdische Mitbürger dem Vergessen zu entreißen, wurden die Projektergebnisse nun in zehn Geschichten zusammengefasst und als kleines Büchlein veröffentlicht. So unvorstellbar leidvoll die Geschichten sind, so deutlich zeigen sich jedoch auch Überlebenswillen, Mut und Hilfsbereitschaft.
Rajko Lassonczyk, Experte für Unterricht,
Goethe-Institut Minsk
Foto: Goethe-Institut Minsk (Buchcover, Beispielseite)