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Humanitäre Geste

Mit Überlebenden der Leningrader Blockade sprechen

vitamin de, Ausgabe Nr. 88, Regionalausgabe Russland

Zvilisten im belagerten LeningradLars Fernkorn studiert in Hamburg Slawistik und Osteuropastudien. Außerdem ist er am Projekt „Humanitäre Geste“ beteiligt. Unter anderem sprechen junge Leute aus Deutschland und Russland dabei mit den letzten Zeitzeugen der Blockade Leningrads während des Zweiten Weltkrieges (1939 – 1945). Der 28-Jährige berichtet von dem Projekt, das wegen der Corona-Pandemie letztes Jahr online stattfand.


In Deutschland ist die Leningrader Blockade in der Erinnerungskultur des Zweiten Weltkrieges ein weißer Fleck. Damals hatte die deutsche Armee die Stadt vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar
1944 belagert. Etwa 1,1 Millionen Zivilisten verloren infolge der Blockade ihr Leben. Diese Kriegsverbrechen der deutschen Armee in Osteuropa und der Sowjetunion wurden in meinem Schulgeschichtsunterricht kaum besprochen. Die zentralen Themen waren der Holocaust und die Landung der Alliierten in der Normandie. Da ich mehr über die Blockade wissen wollte, nahm ich an dem Projekt teil. Zudem sah ich die Teilnahme als wertvolle Ergänzung zu meinem Studium.

Digitales Kennenlernen
Das digitale Kennenlernen zwischen den 15 deutschen und elf russischen Teilnehmenden war recht außergewöhnlich. Es war für uns alle eine neue Erfahrung, ein Team in digitaler Form – über die Plattform Zoom – zu bilden. Während bei den Gesprächen im Plenum alle anfangs etwas zurückhaltend waren, herrschte in kleineren Gruppen, in denen wir oft arbeiteten, eine lockere Atmosphäre. Trotz aller Umstände sind wir ein gutes deutsch-russisches Team geworden.

Blockade als konkretes Schicksal
Das Programm begann mit einer Einführung in die Thematik durch die Geschichtslehrerin Natalja Jansson. Da ich bereits viel zu dem Thema gelesen hatte, wusste ich um die Grausamkeiten der Blockade. Allein das Faktenwissen ließ mich erschaudern. Die Betroffenheit wurde umso größer, als ich mit den Überlebenden der Blockade gesprochen habe. Mein theoretisches Wissen verband sich so mit einer konkreten Person, einem konkreten Schicksal.

Die Gespräche mit den „Blokadniki“
Die Zeitzeugengespräche führten wir in Kleingruppen. Meine Gruppe sprach mit Galina Pawlowna Jarotskaja. Sie war vier Jahre alt, als die Blockade begann. Sie erzählte uns davon, wie eine Bombe auf ihr Haus gefallen ist, und davon, wie ihre Familie aus Tapeten und Büchern den Leim herausgearbeitet hat, um diesen zu essen. Bild SeiteV Zeitzeugen Foto Judith HeckenthalerAuch erzählte sie uns von den 100 Gramm Brot und 25 Gramm Fleisch, die sie am Tag bekamen. Sie schilderte uns auch, wie sie über den Ladogasee evakuiert wurde und welche Angst sie hatte. Es schien uns allen unvorstellbar, wie man so etwas überleben kann. Bezeichnenderweise konnte Galina die Frage, wie sie dies alles überstanden hat und dabei ihren Lebenswillen nicht verlor, nicht beantworten.

Geste der Versöhnung
Trotz des Erlebten hat Galina Pawlowna nie den Mut verloren. Vielleicht gerade wegen ihrer Erfahrungen genießt sie ihr Leben seither in vollen Zügen. Sie erzählte uns, wie gern sie reise und wo sie schon überall gewesen sei. 1981 besuchte sie Kuba und war als Studentin im heutigen Kasachstan. Auch in Deutschland ist sie gewesen. Eine schönere Geste der Versöhnung kann ich mir als Deutscher, in Anbetracht unserer Geschichte, nicht vorstellen. Ich habe durch diese Gespräche einen lebendigen Eindruck von der Leningrader Blockade bekommen. Es ist etwas Besonderes, solche Berichte von Menschen zu hören, die das Grauen selbst erlebt haben. Daher gilt mein Dank Galina Pawlowna, die großherzig ihre Erinnerungen mit uns teilte. Wir sollten dafür sorgen, dass diese niemals in Vergessenheit geraten.

Lars Fernkorn

Eine Geste der Verständigung und Aussöhnung

Das Freiwilligenprogramm im Rahmen des Gesamtprojekts „Humanitäre Geste“ ist eine Kooperation der Stiftung Deutsch-Russisches Begegnungszentrum in Sankt Petersburg und des JugendSozialwerks Nordhausen. Unterstützt wird es vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland. Das dreimonatige Programm widmet sich der Leningrader Blockade. Es bringt Studierende aus Deutschland und Russland zusammen, um mit Überlebenden der Blockade zu sprechen. Das Freiwilligenprogramm umfasst zudem Seminare zur Geschichte der Blockade und interkulturellen Kommunikation sowie Sprachkurse. Es dient dem Austausch zwischen Deutschen und Russen und endet damit, dass die Freiwilligen gemeinsam Kleinprojekte zum Thema realisieren – darunter eine Onlineausstellung, einen Film sowie Zeitungsartikel. Während der erste Durchgang des Programms 2019 in Sankt Petersburg stattfand, wurde es 2020 aufgrund der Corona-Pandemie im Onlineformat durchgeführt.

Fotos: Boris Rudoyarov/RIA Novosti archive/wikimedia.org (Zivilisten im belagerten Leningrad), Judith Heckenthaler (Onlinekonferenz), Stiftung Deutsch-Russisches Begegnungszentrum St. Petersburg (Logo), JugendSozialwerk Nordhausen e. V. (Logo)

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