Der Eigenart des Psychischen können wir nicht durch lineare Konturen gerecht werden wie in einer Zeichnung, eher durch verschwimmende Farbenfelder wie bei den modernen Malern“, sagte Freud einmal in einer Vorlesung. Er beschäftigte sich sein Leben lang mit der menschlichen Psyche, um eine Struktur in unserem Denken und Handeln zu finden. Mit seinen Theorien zu Träumen und dem Unbewussten hat Freud den Blick auf das menschliche Denken verändert. „Manche verehren ihn heute wie ein Idol“, sagt Eric Kandel, Neurobiologe und Nobelpreisträger für Medizin. „Freud hat sehr gute Erkenntnisse gewonnen, aber auch Fehler gemacht.“ Deshalb sei es wichtig, sich mit Freuds Theorien kritisch auseinanderzusetzen und seine Gedanken weiterzuentwickeln.
Ursachen psychischer Erkrankungen
Sigmund Freud wurde 1856 in Freiberg – damals Teil der Habsburger Monarchie, heute Příbor in Tschechien – geboren. Die Familie zog bald nach Wien. Schon während seiner Schulzeit interessierte sich Freud für Naturwissenschaften und Philosophie. Später studierte er Medizin, bekam mit 25 Jahren den Doktortitel und wurde wenig später Professor. Nach Forschungen in Paris eröffnete Freud 1886 eine Praxis für Nervenheilkunde in Wien. Durch den Einsatz von Hypnose wollte er unbewusste Gedanken seiner Patienten aufdecken. Verdrängte Erlebnisse aus der Kindheit sah Freud als Ursache von psychischen Erkrankungen. Er ging davon aus, dass die Interpretation von Träumen bei der Behandlung helfen könnte..
Das Ich, das Es und das Über-Ich
Weltweit bekannt wurde Freud mit seinem „Strukturmodell der Psyche“ und der darauf aufbauenden Psychoanalyse. Für Freud besteht die Psyche aus drei Teilen: dem Ich, dem Es und dem Über-Ich. Das Ich ist das Bewusstsein des Menschen, das mit der Außenwelt kommuniziert. Das Es ist das Unbewusste, die Bedürfnisse und Triebe des Menschen. Die wichtigsten Triebe sind laut Freud der Lebens- oder Sexualtrieb und der Todestrieb. Das Ich (das Bewusste) ist der vernünftige Teil der Seele, kontrolliert das Es und versucht dessen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Kontrolle der Triebe sorgt dafür, dass das Verhalten eines Menschen nicht gegen gesellschaftliche Tabus verstößt. Dafür ist das Über-Ich nötig. Es übernimmt eine Art Elternrolle in der Psyche. Im Über-Ich sind Werte verankert, also Vorstellungen darüber, was gut und was böse ist. So können im Ich Schuldgefühle oder ein schlechtes Gewissen entstehen.
Die Psychoanalyse
Mit der Psychoanalyse versuchte Freud, Menschen mit psychischen Erkrankungen zu therapieren. Nach ersten Versuchen, durch die Hypnose in das Unbewusste (das Es) vorzudringen, entwickelte er die Methode der freien Assoziation. Der Patient spricht frei heraus, was ihm gerade durch den Kopf geht. Der Therapeut versucht, diese Gedanken gemäß Freuds Modell zu deuten und bespricht diese Deutung mit dem Patienten. Freud entschlüsselte auch symbolische Botschaften in Träumen. Hinter diesen Botschaften stehen laut Freud Triebe des Es, die nicht ausgelebt werden können. Dadurch wird der Traum zum Fenster ins Unbewusste des Menschen.
Rezeption und Wirkung
Mit dem Versuch, die Psyche des Menschen wissenschaftlich zu erklären, war Freud ein Pionier. Dass es bei einem Versuch blieb und er seine Theorien nicht wissenschaftlich belegen konnte, brachte ihm schon zu Lebzeiten viel Kritik ein. Dennoch wurden manche seiner Ideen ein wesentlicher Bestandteil der modernen Neurowissenschaft. „Freuds Theorie, dass der größte Teil unseres Seelenlebens unbewusst bleibt, ist heute Konsens in der Wissenschaft“, erklärt Neurobiologe Eric Kandel. Freud lebte und arbeitete fast 50 Jahre mit seiner Familie in der Berggasse 19 in Wien. Dort ist heute das Freud-Museum untergebracht. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938 musste die Familie, die jüdischer Abstammung war, aus Österreich fliehen. Sie emigrierte nach London, wo Freud ein Jahr später mit 83 Jahren verstarb. Trotz aller Kritik steht fest: Sigmund Freud legte die Basis für die moderne Psychologie.
Der freudsche Versprecher
Ein Politiker soll eine wichtige Sitzung eröffnen. „Hiermit erkläre ich diese Sitzung für geschlossen“, sagt er bei der Begrüßung feierlich. Offensichtlich wollte der Redner die Sitzung lieber beenden als eröffnen. Unfreiwillig erzählte er das seinen Zuhörern. Diese psychische „Fehlleistung“ geht, so Freud, auf das Unbewusste zurück, das in dem Moment stärker ist als das Bewusste. Noch heute spricht man vom „freudschen Versprecher“, wenn jemand sagt, was er denkt, ohne es zu wollen. Neurolinguistische Untersuchungen ergaben aber, dass das Gehirn beim Sprechen manchmal physiologisch nicht korrekt arbeitet. Nicht jeder Versprecher ist also ein „freudscher Versprecher“.
Christina Liebhart
Fotos: Tullio Saba/flickr.com (Sigmund Freud am Arbeitsplatz),
Max Halberstadt/wikimedia.org (Porträt von Sigmund Freud)
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